Regienotiz
„POLL ist ein historisches Drama, das ich aus sehr persönlichen Gründen seit 1996 verfolgt habe. Nicht etwa die Welt von gestern hat mich interessiert, sondern der Beginn einer Zeit, die noch heute die unsere ist. In vielen meiner Arbeiten spüre ich der Frage nach, wie ein Mensch gegen die Widerstände seines Umfelds bei sich selbst anzukommen vermag. Im Falle von POLL war dieser Mensch, der mir schon lange ein Leitbild wie auch ein Rätsel ist, Oda Schaefer.
Ich bin auf diese Schriftstellerin vor Jahrzehnten während meines Germanistikstudiums gestoßen. Zu meiner großen Überraschung stellte sich damals heraus, dass sie meine Großtante war, mit Mädchennamen Oda Kraus hieß und in meiner Familie wegen ihrer angeblich kommunistischen Gesinnung nicht erwähnt werden durfte. Sie wurde totgeschwiegen, galt als inopportun, weil sie als eher linksintellektuelle Autorin in meine in Teilen nationalsozialistisch geprägte Verwandtschaft nicht hineinpasste. Schon damals hat mich beschäftigt, wie es meiner Tante, die ich persönlich nie kennengelernt hatte, gelungen war, trotz ihrer Herkunft einen so radikal unabhängigen Weg einzuschlagen, den Weg der Selbstdefinition, der den Bruch mit einem Großteil ihrer Familie zur Folge hatte.
Ich glaube, dass für mich diese erste, vor über zwanzig Jahren gestellte Frage immer noch den Kern des Filmes bildet: Wie finden wir zu uns selbst, wenn die Welt uns anders gemeint hat? Welchen Preis bezahlt man für eine Emanzipation, die nicht gewährt wurde und niemals verziehen wird?
Oda Schaefer hat nie an große Menschheitsideen geglaubt. Ich teile diese Skepsis. Denn allen Ideen haftet grundsätzlich, wenn man sie radikal zu Ende denkt, etwas Unmenschliches an. Weil sie logisch sind, diese Ideen, in sich schlüssig wie Mathematik. Du kannst zur Humanität nur finden, wenn du bei dir selbst landest. Beim nackten, widersprüchlichen Ich. Wie unendlich schwer das ist, darum geht es in POLL.“ (Chris Kraus)
FILMOGRAFIE chris kraus
CHRIS KRAUS | Buch und Regie
Geboren 1963 in Göttingen. Nach Tätigkeiten u.a. als Journalist und Illustrator studierte er von 1991-1998 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Chris Kraus arbeitete zunächst als Autor und dramaturgischer Berater, u.a. für Detlev Buck, Rosa von Praunheim, Volker Schlöndorff und Pepe Danquart. Sein Regiedebüt SCHERBENTANZ (2002) wurde u.a. mit zwei Bayerischen Filmpreisen (Regienachwuchspreis und Beste Darstellerin: Margit Carstensen), dem Deutschen Drehbuchpreis, dem Deutschen Kamerapreis, der Goldenen Kamera für Hauptdarsteller Jürgen Vogel und dem New Talent Award für die beste Regie ausgezeichnet. Sein zweiter Film VIER MINUTEN (2006) mit Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung war einer der erfolgreichsten deutschen Filme der letzten Jahre und gewann über 50 nationale und internationale Preise, u.a. den Hauptpreis beim Shanghai International Film Festival sowie den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm. Es folgten BELLA BLOCK - REISE NACH CHINA (Deutscher Kamerapreis – Bester Schnitt) und die Inszenierung der Oper Fidelio (Musikalische Leitung: Claudio Abbado) in Reggio Emilia, die mit dem „Premio Abbati“ ausgezeichnet wurde.