Von Chris Kraus
Wesenberg liegt im Norden Estlands. Heute heißt es Vistule. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der kleine Marktflecken rund 2000 Einwohner, die größtenteils genügsame Esten waren, von Ackerbau und Viehzucht lebten und jeden Sonntag die Kirche besuchten, von deren Kanzel der deutsche Pastor zu ihnen predigte.
Um 1850 hieß der Pastor von Wesenberg Hugo Rosen. Die deutschbaltischen Rosens, die seit der Verleihung des Annenordens III. Klasse durch Zar Alexander eigentlich “von Rosen” hießen, stellten dem Russischen Reich seit Jahrhunderten neben Offizieren und Verwaltungsbeamten auch einige Pastoren, die in diesem äußersten westlichen Winkel des Imperiums die estnischen Ureinwohner zu Glauben und Gehorsam anhielten. Hugo Rosen, ein jähzorniger, patriarchalischer und zu Gewalt neigender Pastor, hatte als junger Theologieadjunkt die kurländische Baronesse Johanna Maria von Stackelberg geheiratet, eine sanfte, zartbesaitete Künstlernatur.
Die früh geschlossene Ehe der beiden verlief nicht gut. Die beiden gemeinsamen Söhne Eberhard und Kaspar Rosen wuchsen in der Enge einer von Zucht und altbiblischer Strenge geprägten Familie auf. Die Mutter starb noch vor Erreichen des 30. Lebensjahres.
Eberhard Rosen, der am 24. Februar 1862 als ältester Sohn Hugos geboren wurde und von jedermann nur Ebbo genannt wurde, rebellierte nach dem Tod der geliebten Mutter gegen seinen Vater, der ihn als seinen Nachfolger im Pastorenamt sehen wollte. Ebbo studierte anfangs Theologie in Dorpat, weil Hugo Rosen ihn anderenfalls für drei Jahre als einfachen Rekrut in die russische Armee gepreßt hätte, was damals das Vorrecht eines Vaters war.
Nach Ablegen der Probepredigt verweigerte sich Ebbo jedoch allen weiteren Wünschen des Vaters und begann ein Medizinstudium, was nur durch das kleine Erbe seiner verstorbenen Mutter möglich war. Sein Vater zahlte ihm kein Studiengeld, versuchte sogar, seinem widerspenstigen Sohn das mütterliche Erbe zu verweigern und drohte ihm mit Entzug aller weiteren Erbrechte.
Doch nichts half. Eberhard nahm im estländischen Dorpat 1887 sein medizinisches Studium auf. Von seinen vielseitigen, auch künstlerischen Interessen war die Begeisterung für die Natur, für ihre Beobachtung und Durchdringung die nachhaltigste geblieben. Obwohl er durch sein relativ fortgeschrittenes Alter für eine wissenschaftliche Karriere kaum prädestieniert schien, halfen ihm Ehrgeiz, Fleiß und rasche Auffassungsgabe, die Nachteile des späten Studiums auszugleichen. Da er schon im Gymnasium ungewöhnlich große Geistesgaben bewiesen hatte, war es auch nicht verwunderlich, daß er bereits nach dem 4. Semester von seiner Universität zur Begabtenkonkurrenz der Stiftung Ihrer Majestät, des Zaren Alexander III,, nach Petersburg entsandt wurde. Er belegte in dieser Konkurrenz unter 27 Kandidaten den 3. Platz, erhielt ein Stipendium für zwei Auslandssemester an der Universität Turin.
Im Sommer 1889, im Alter von 27 Jahren, kam Ebbo in Turin an. Er machte schnell die Bekanntschaft mit dem berühmten Professor für Gerichtsmedizin und Hygiene, Cesare Lombroso, dessen Vorlesungen er wie Weihestunden besuchte. Schnell wurde der kleine, temperamentvolle Italiener, der wie fast alle Naturwissenschaftler jener Zeit sehr gut deutsch sprach, auf den mit leidenschaftlicher Anbetung lauschenden Stipendiaten aufmerksam. Innerhalb von wenigen Monaten lernte Ebbo italienisch.
Lombrosos Gegenstand war vor allem das menschliche Gehirn. Als Ebbo trotz seiner nur rudimentären Italienischkenntnisse eine erste Hausarbeit mit “cum laude” besteht, wird er von Lombroso in dessen Villa geladen. Hier führt ihn der Gelehrte durch seine mit großem Engagement betriebenen Sammlungen, die zehn Jahre später in das Museo di antropologia criminale münden werden. Eine umfangreiche Anhäufung von Schädeln, Gehirnen, tätowierten Hautabschnitten und zahllosen anderen anthropologischen Objekten beeindruckt Ebbo. Lombroso behauptet, daß das Sammeln alleine schon unweigerlich zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führe.
Seit Lombrosos wissenschaftlichem Hauptwerk Genio e follia (dt. Genie und Irrsinn, 1872), ist Lombroso einem größeren europäischen Publikum bekannt. In der zeitgenössischen Diskussion um das Genie vertritt er die Position, dass es sich hierbei um einen permanenten psychischen Ausnahmezustand handle, der in seinen verschiedenen Ausformungen Analogien zur "Verrücktheit" im Sinne der Ekstase zeige und letztlich biologisch nicht grundsätzlich verschieden von der kriminellen Disposition sei. In Genio e follia beschreibt Lombroso Schriftsteller wie Tasso, Rousseau, Hölderlin oder Kleist als "Genies mit Geistesstörung" und vergleicht sie mit klinischen Fällen von Wahnsinn.
Ebbo ist jedoch besonders fasziniert von Lombrosos 1876 erstmals veröffentlichtem Werk L´Uomo delinquente (dt. Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 1887). In dieser Untersuchung begründet Lombroso eine neue Theorie in der Kriminologie, den Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht.
Nach Ablauf seines Stipendiums bewirbt sich Ebbo bei Lombroso als Schüler und wird tatsächlich als 3. Assistent akzeptiert. Ebbo lernt in den folgenden Semestern bei Lombroso die medizinischen Voraussetzungen, um Gehirne zu präparieren, zu sezieren und zu deuten. Auch Schädelvermessungen, vor allem Schädelausgüsse, nimmt Ebbo für den Professor vor. Wie sein Lehrmeister wird Ebbo ein unermüdlicher Sammler von Daten, Objekten, sogar Anekdoten. Er bekennt sich zum Positivismus und zur sozialdarwinistischen Evolution der Gesellschaft, sieht sich als Bewahrer der Werte, der das Schöne und Gute zu schätzen und mit wissenschaftlichem Sachverstand einzuordnen weiß. Vor diesem Hintergrund beginnt er, Verbrechergehirne immer genauer zu untersuchen, die Zahl und Tiefe der Gehirnwindungen zu vermessen und Rückschlüsse auf die Lokalisation der “kriminellen Veranlagung” beim Menschen zu ziehen.
Allerdings sind weder Lombroso noch Ebbo bei der Wahl ihrer diagnostischen Methoden und Apparaturen zimperlich. Das zeigt sich insbesondere in ihrer Deutung der Gehirne und Schädel entarteter, epileptoider und geisteskranker Genies, die beide Wissenschaftler überall auszumachen meinen. Dabei kann Lombroso kaum auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Zwar hatte er den Schädel des berühmten Physikers Alessandro Volta und ließ seine Schüler eine Vielzahl von Verbrechergehirnen untersuchen. Außerdem hat er mehrere Reihen von Schädelumfangsmessungen durchgeführt, dessen Auswertung er übrigens Ebbo überließ.
Aber für die ausgewiesenen Hirnanatomen der Zeit war das alles kaum der Rede wert. Lombrosos Lehre vom delinquente nato - dem geborenen Verbrecher - war daher in der Fachwelt von Anfang an umstritten.
Der Kriminelle wird in dieser Theorie als besonderer Typus der Menschheit beschrieben, der in der Mitte des Geisteskranken und des Primitiven stehe. Die direkte Verwandtschaft zu den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen trete bei manchen Personen in ihren körperlichen Merkmalen offen zutage, so Lombrosos These. Eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen sind damit der Verweis auf eine atavistische - also niedrigere und gewalttätigere - Entwicklungsstufe. Damit deuten nach Lombrosos und auch Ebbos Meinung äußere Merkmale auf die tief verwurzelten Anlagen zum Verbrecher hin, die auch durch die Aneignung sozialer Verhaltensweisen nicht überdeckt werden können. Der Kriminelle sei daher nicht ein Produkt seiner Umwelt, nicht aus Armut, Verzweiflung oder aus Wut auf seine Verhältnisse stiehlt, raubt und mordet er. Sondern vielmehr sei der Verbrecher ein Opfer seiner Hirnstruktur, dessen Weg zur Untat seit den frühesten Säuglingstagen feststehe und der auch per Vererbung seine verbrecherischen Anlagen weitergebe. Ein Verbrecher sei zum Verbrecher geboren. Gäbe es daher ein verläßliches Instrumentarium, den Kriminellen an seinem Äußeren zu erkennen, könne die Gesellschaft prophylaktisch jeden Täter aussondern, noch bevor er straffällig werde. Eine glückliche und harmonische Gesellschaft ohne jede Kriminalität wäre die Folge.
Mit dieser kriminologischen These standen Lombroso und seine Schüler im Kreuzfeuer einer medizinischen Kritik, die sich im späten 19. Jahrhundert in verschiedene, sich heftig bekämpfende wissenschaftliche Schulen aufsplitterte.
Reine Physiologen wie der Franzose Claude Bernard hatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder die bedenkenlose Ansammlung von Daten und Fallgeschichten bei klinischen Medizinern kritisiert, weil diese der irrtümlichen Ansicht waren, daß sich aus der Addition dieser Fälle die wissenschaftliche Wahrheit von selbst ergebe. Lombroso war von der Zuverlässigkeit der Sammelmethode zutiefst überzeugt und predigte diese auch seinen Schülern. Ebbo schenkte er zu dessen 30. Geburtstag vierzehn Schädel von Eingeborenen aus Abessinien. So wie er selbst Tätowierungen, abgeschnittene Ohren, Gebeine und Gehirne von Verbrechern sammelte, trug er auch Nachrichten über Biographie und Gehirn bedeutender Persönlichkeiten zusammen. Offensichtliche Ungereimtheiten blendete Lombroso aus, denn schwere und leichte Gehirne, übermäßig konfluierende und verzweigte Hirnwindungen konnten allesamt als Entartungszeichen gelten, die sich folgerichtig bei Genies, Verbrechern und Geisteskranken fanden.
Mit solchen halbverdauten Interpretationen tat Lombroso jedoch der Hirnanthropologie und der hirnorganischen Psychiatrie, die damals vor allem in Deutschland hoch im Kurs stand, keinen Gefallen. Dementsprechend scharf waren die Reaktionen der deutschen Mediziner. Theodor Meynert, der auch Benedikts These des “Raubtiergehirns” heftig kritisiert hatte, hielt Lombrosos Verbrecher- und Genietheorie für den “größten Schund, mit dem je Schwindel getrieben wurde”, und wollte ihm am liebsten verbieten, weiter in den Naturwissenschaften zu arbeiten. Berühmte Anatomen wie der Heidelberger Professor Schivelbein beschimpften Lombroso selbst als Verbrecher, dessen Hirn so schnell als möglich seziert werden müsse.
Sogar in Italien, an der Turiner Universität selbst, regte sich heftigster Widerstand. Zwar waren Schädel- und Gehirnuntersuchungen nach der Gründung des italienischen Staates keine Seltenheit. Sie gehörten, wie in anderen europäischen Ländern auch, zur Bestimmung der nationalen Identität, die sich zu einem wichtigen Teil über die Rasse definierte. Viele Anatomen waren aber der Ansicht, daß sich vom Schädel und Gehirn nicht ohne weiteres auf eine rassische Höher- oder Minderwertigkeit und schon gar nicht auf Verbrecher- oder Genieanlagen schließen lasse. Das war die Ansicht von Carlo Giacomini, Turiner Lehrstuhlinhaber für Anatomie und somit Lombrosos Kollege und größter Feind. Ebbo hat sich mit einem der Schüler Giacominis sogar ein Duell mit Pistolen geliefert.
Gewiß bestritten nicht einmal Lombrosos Verteidiger seine unbedarfte Versammlung von Daten und seine mangelnde Erfahrung mit der Anatomie des Gehirns. Daß Lombroso dennoch seine Reputation als wissenschaftlicher Mediziner retten konnte, war vor allem der Tatsache geschuldet, daß in seinem Methoden-Eklektizismus gerade die von Ebbo vorangetriebenen objektivierenden Verfahren wie Fotografie, Hirnschnittanalysen, Gesichtsfeldmessungen und Algometrie Platz fanden. Und natürlich half Lombroso seine enorme Popularität in halb Europa, daß er schadlos durch alle Anfeindungen kam.
Ebbo, der inzwischen zum 1. Assistenten Lombrosos aufgestiegen war, mußte sich angesichts des großen internationalen Widerstandes gegenüber seinem Professor entscheiden, ob er seine Doktorarbeit in Turin oder im baltischen Dorpat einreichen wollte. Er entschied sich für Italien, weil er darauf spekulierte, nach der Dissertation eine freiwerdende Habilitationsstelle innerhalb Lombrosos Professur einnehmen zu können. Auch hoffte er, den dereinst freiwerdenden Lehrstuhl Lombrosos übernehmen zu können, da sein inzwischen fast 60 Jahre alter Doktorvater ihn als “Lieblingsschüler” bezeichnete.
Am 16. März 1893, im Alter von 31 Jahren, promovierte Ebbo an der Universität Turin mit der Arbeit: “La donna delinquente” (Das Weib als Verbrecherin) und erhielt dafür die Note “Summa cum laude”. Lombroso selbst nahm diese Arbeit als Grundlage für sein größeres Werk gleichen Titels, das ein Jahr später veröffentlicht werden sollte.
Der Schock war gewaltig, als Lombroso jedoch wenige Monate nach der Promotion die freigewordene Habilitationsstelle nicht Ebbo, sondern ausgerechnet einem der Schüler Giacominis antrug, um den Kontrahenten zu besänftigen. Auch wollte Lombroso seinen besten Assistenten nicht verlieren.
Zutiefst gekränkt, seinem untreuen Professor dennoch in melancholischer Anhänglichkeit verbunden, kehrte Ebbo schon wenige Wochen darauf ins russische Reich zurück. Das Erbe seiner Mutter war aufgebraucht und er mußte dringend Geld verdienen. Aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen kam er als Assistent bei dem Dorpater Anthropologen Meyerbeer unter, der wie Lombroso Jude war und sich gerne mit dem Glanz des jungen, international erfolgreichen Mediziners umgab. Allerdings wurde Ebbo schnell klar, daß in Dorpat mit einer Fortsetzung einer wissenschaftlichen Karriere nicht zu rechnen war, weil die nächste Habilitationsmöglichkeit in weiter Ferne lag. Vielmehr schien alles darauf hinzudeuten, daß er sich über kurz oder lang als Arzt niederlassen müsse.
Dies jedoch wollte er auf keinen Fall tun. Er veröffentlichte zwei weitere Aufsätze (“Verbrechergehirne Oberitaliens” 1896 sowie “Untersuchung über das Labyrinth des Faserbaus unseres Grosshirns”, 1897).
Im Sommer 1896 lernte er die Dorpatenser Kaufmannstochter Alice Bartels kennen, eine der schönsten Töchter der Stadt, die es fertigbrachte, auf ihrem eigenen Zopf zu sitzen. Die Leidenschaft entbrannte auf beiden Seiten und man heiratete nach der Anstandsverlobung im Januar 1897.
Im Jahr darauf erreichte Ebbo ein Ruf an die Universität Wien. Am Kaiserlichen und Königlichen Institut für Psychiatrie war eine mit einer Anstellung verbundene Habilitationsstelle freigeworden. Der Institutsleiter Professor Benedikt war während eines Hirnkongresses in Genua von Lombroso auf den jungen Ebbo angesprochen worden. Begeistert zog Ebbo mit seiner etwas skeptischen Ehefrau vom provinziellen Dorpat ins ferne Wien.
Das junge Ehepaar (Alice war erst 24 Jahre alt) mietete sich im Sommer 1898 nicht weit von der Wiener Burg eine behagliche Beletage, da die Habilitationsstelle mit einem nicht unbeträchtlichen Stipendium ausgestattet war.
Der Institutsleiter Professor Moritz Benedikt war in nahezu allen Äußerlichkeiten das genaue Gegenteil des temperamentvollen Rumpelstilzchens Cesare Lombroso. Düster, humorlos und mit einer an Stille grenzenden Wortkargheit verbreitete Professor Benedikt ein lähmendes Entsetzen um sich herum, wo Ebbo zuvor nur die leichte Effeminierung der zum Dramatischen neigenden italienischen Wissenschaftler genossen hatte. Professor Benedikt war ein enger Kampfgenosse Lombrosos und eine der großen Kapazitäten der österreichischen Hirnforschung, der in diesem Zusammenhang die Wortschöpfung des “Raubtiertypus” geprägt hatte (in seinem Hauptwerk “Anatomische Studien an Verbrechergehirnen”).
Im Regelfall besteht das Stirnhirn des Menschen aus drei Urwindungen. Bisweilen sind es auch vier, wie bei manchen Raubtierarten, zum Beispiel dem Tiger. Diesen Umstand betrachtete der Wiener Arzt Moritz Benedikt schon früh als Anomalie, die er als typisch für Gehirne von Verbrechern ansah. Benedikt gründete in Wien eine von ihm selbst so bezeichnete “Verbrecherklinik”, die nichts anderes war als eine Sammlung von Schädeln und Gehirnen verstorbener oder hingerichteter Krimineller, die er sich vom Wiener Scharfrichter gerne “lebendfrisch” ins Institut liefern ließ.
Ungefähr gleichzeitig zu seinem weltweit wesentlich bekannteren Kollegen Lombroso machte sich Benedikt an seine hirnanatomischen und craniologischen Untersuchungen. In der Vermischung von vermeintlich konstanten Hirnbefunden und semantischen Anspielungen auf die Minderwertigkeit und Bestialität des Verbrechers kommt das gesamte Instrumentarium einer biopolitischen Erzeugung des Bösen zum Ausdruck, die Ebbo vollkommen teilte.
Doch trotz dieser inhaltlichen Übereinstimmung kam es schon innerhalb weniger Monate zum Bruch zwischen beiden Männern. Benedikt beauftragte nämlich Ebbo, die Wiener Hirnsammlung zu durchforsten. Die sorgfältig gestalteten Tafeln seiner Fundergebnisse sollten in chronologischer und somit hierarchischer Reihenfolge zunächst “Hirne von Affen”, dann “Hirne von Frauen”, “Hirne von Männern” und schließlich als Höhepunkt “Hirne von Gelehrten” enthalten.
Als Ebbos Frau Alice einmal im Institut ihren Mann abholen wollte und diese Tafeln entdeckte, erlitt sie einen tragischen Lachanfall, der Benedikt zutiefst verärgerte, zum einen wegen des Gelächters an sich, zum anderen wegen des Anlasses, zum dritten aber wegen des minderwertigen Geschlechts der Lachenden.
Der Professor bot Ebbo an, dessen Gattin einmal zu hypnotisieren, um das offensichtlich restringierte Gehirn von Alice die Möglichkeit zu geben, zur Organleistung ihres Mannes aufzuschließen. Alice lachte erneut und wies das Angebot dankend ab. Zweimal Lachen war einmal zuviel. Die Karriere Ebbos in Wien war vorbei.
Die Ehe bekam ihren ersten Knacks. Und Ebbo fühlte bei sich den innerern Stich eines erblühenden antisemitischen Grundtenors, da die ihn so enttäuschenden Professoren Lombroso, Meyerbeer und Benedikt allesamt Juden gewesen waren.
Immerhin gelang es Ebbo jedoch, über den Berliner Kriminellengehirnforscher Professor Rüdinger einen Kontakt nach Berlin zu knüpfen. Hier wurde am “Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung” gerade nach einem begabten Gehirnpathologen gesucht, dem man in dieser Verbindung eine Habilitationsstelle anbieten wollte.
Der noch junge Professor Oskar Vogt holte den gleichaltrigen Ebbo und seine Frau über Nacht nach Berlin, verschaffte ihnen eine Wohnung im Grunewald und brachte eine neue Dynamik in Ebbos Forschungen.
Ebbo geriet nun nach der Ausbildung bei den älteren Kapazitäten Lombroso und Benedikt, die eine Prädisposition des “kriminellen Wesens” anhand von Rinden- und Furchenmessungen im Gehirn (“Kampf um Oberfläche”) festzustellen meinten, an eine ganz andere Ausrichtung der Hirnforschung. Bei Lombroso hatte es eine hierarchische Unterteilung des Gehirns in höhere und niedere corticale Felder gegeben, eine Aufteilung in intellektuelle und emotionale Bereiche, einen Kampfplatz zwischen edlen und primitiven Trieben, die in einer Art Verstrickung in die Kriminalität oder zum Genie führen konnten. Bei Benedikt gab es den “Raubtiertypus”, der anhand von Deformationen des Stirnhirns lokalisierbar war. All das interessierte Vogt nicht. Stattdessen ist aus seiner Sicht die gesamte Hirnrinde ein differenziertes Organ, ein Konglomerat aus zahlreichen funktionell gleichberechtigten Zentren. Deswegen bestand die zukünftige Aufgabe Ebbos innerhalb seiner Habilitation darin, eine völlig andere Lokalisationsordnung als bei Lombroso und Benedikt zu finden.
Dazu diente die sogenannte Cytoarchitektonik – damit war die Zerschneidung eines Gehirns in millimeterdünne, in Tausende von Scheibchen gemeint. Dabei kam es entscheidend darauf an, die zahllosen anatomischen Hirnschnitte in einer genau festgelegten Ordnung unter das Mikroskop zu legen, denn nur auf diese Weise waren Strukturunterschiede von Zellverbänden möglich. Und nur so konnten zuverlässige Abgrenzungen eines bestimmten Hirnareals von einem anderen vorgenommen werden.
Das für Ebbo unerfreuliche Resultat dieser Kartierung (die zu 52 verschiedenen Hirnfeldern führte) war nun, daß sie keine Lokalisation im Sinn einer psychophysischen Zuordnung Lombrosos oder Benedikts mehr erlaubte. Ebbo führte vielmehr seine eigene Doktorarbeit (“la donna delinquente”) ad absurdum. Denn die 52 Hirnfelder waren nicht identisch mit den Arealen, die die Kliniker und Anatomen des 19. Jahrhunderts meinten gefunden zu haben. Vor allem behauptete Vogt, daß die unter dem Mikroskop zu erkennenden, scharf abgegrenzten Hirnfelder zwar Zuordnungen zu motorischen und sensorischen Fähigkeiten des Menschen zuließen. Aber im Gegensatz zu Lombroso und Benedikt wies er psychische Zentren, Assoziationsschichten und die Verortung von Kriminalität oder Genie im Gehirn zurück, weil dafür keine Anhaltspunkte in den Hirnschnitten zu erkennen waren. Es gab dafür im Hirn keinerlei “Architektur”, wie sich Vogts ausdrückte.
Vogts Thesen wurden insofern erhärtet, als daß zunächst im Tierversuch, aber auch später im Rahmen von Hirnoperationen bei verwundeten Soldaten, die von Vogts kartographierten Hirnregionen bestätigt wurden. Viele Felder im Hirn waren zuständig für bestimmte Funktionen des Körpers.
Ebbo begann nun, die Cytoarchitektonik für seine eigene These zu nutzen. Er war nämlich weiterhin davon überzeugt, daß sehr wohl im Hirn eine Lokalisation von psychischen und somit auch kriminellen Qualitäten möglich sei. Er versuchte, an möglichst zahlreiche Gehirne von Verbrechern, Prostituierten und Terroristen zu kommen, was jedoch im preußischen Staat sehr viel schwieriger war als das in diesen Dingen barockere Italien oder gar in Österreich.
Im übrigen wurden seine Forschungen von Oskar Vogt auch immer kritischer begleitet, zunehmend sogar behindert, da der Professor enttäuscht war darüber, daß Ebbo insgeheim durch die Wahl des Forschungsansatzes gegen ihn opponierte und seine Ergebnisse unterminierte.
Im Januar 1900 wurde die einzige Tochter von Ebbo und Alice im Berliner Gertrudenkrankenhaus geboren. Sie wurde auf den Namen Oda Elisabeth getauft. Die Ehe war bereits zu diesem Zeitpunkt beschädigt, da Ebbo ein wunderlicher, zur Untreue neigender Eigenbrötler wurde, für den es außerhalb seiner Wissenschaft eigentlich nichts gab - und der mit Herablassung seine lebensfrohe, vielleicht etwas oberflächliche Gattin betrachtete, die das Gehalt Ebbos mit Klavierstunden aufbesserte und seine Forschungen immer weniger ernst nahm. Ebbo sammelte wie sein Vorbild Lombroso alle möglichen Präparate, die auch nur entfernt mit seinem Forschungsgegenstand zu tun hatten: Kinderschädel, Föten von Zwergen und anatomische Verunstaltungen aller Art, die sich im Wohnzimmer der Rosens stapelten.
Im Jahre 1902 legte Ebbo seine Habilitation vor: “Preußische Verbrechergehirne im cytoarchitektonischen Programm”. Ebbo wies nach, daß besonders bei “lebendfrisch entnommenen Denkorganen” von Kriminellen eine in der linken Hirnhälfte auffällige Cortexvergrößerung auffiel, in der er asoziale Anlagen vermutete. Ebbo deutete auch an, daß eventuell mit fortschreitenden Kenntnissen von neurochirurgischen Operationen in diesem Bereich “soziale Korrekturen” möglich sein könnten. Noch dazu wies Ebbo auf zahlreiche Verbindungen zwischen den Ergebnissen der Hirnanalysen und den Physiognomien und Schädelformen der untersuchten Kriminellen hin.
Die Habilitation führte zu einem Skandal, da Professor Vogt sie nicht annahm und die Preußische Akademie der Wissenschaft ebenfalls die Annahme verweigerte. Dies war in der hundertjährigen Geschichte der Berliner Universität erst viermal vorgekommen. Ebbo wurde vorgeworfen, “unwissenschaftlich” und “spekulativ” gearbeitet zu haben. Er wurde als “Phrenologe” abgetan und man deutetet ihm an, daß er, wenn er auf der Einreichung der Habilitation bestünde, mit der Note “Nicht genügend” zu rechnen habe – was unzweifelhaft das Ende seiner Karriere bedeutet hätte. Da Ebbo bereits 40 Jahre alt war, stand er vor dem Nichts, zumal auch das Habilitationsstipendium sich erledigt hatte.
Noch einmal schaltete sich der fast 70-jährige Lombroso ein und es gelang Ebbo zumindest, als Assistent des Psychiaters Professor Bietigstein an der Berliner Universität zu bleiben. Doch Bietigstein war zwei jahre jünger als Ebbo und hatte nicht annähernd die Brillanz des Untergebenen. Ebbo war trotz all seiner Talente und seines Fleißes in einer wissenschaftlichen Einbahnstraße gelandet.
Seine Ehe schien zerrüttet, da er sich in Liebschaften mit Patientinnen Bietigsteins einließ, in dessen Praxis er mehr und mehr aushelfen mußte, um seine Miete zu bezahlen. In die 1903 in London gegründete “International Brain Commission” wurde er nicht einmal aufgenommen, obwohl er seine Habilitationsschrift inzwischen auf eigene Kosten veröffentlicht hatte, allerdings kaum mehr wissenschaftlichen Widerhall fand.
Im Jahre 1904 schließlich starb mit Lombroso sein letzter verbliebener Förderer. Lombroso hatte testamentarisch verfügt, daß Ebbo wie auch die anderen 5 “Hauptassistenten” des Maestros bei der Öffnung des Schädels und der Entnahme des Gehirns anwesend sein dürften. Das Gehirn Lombrosos sollte als posthumes Glanzstück eines Genies in das damals schon berühmte kriminalanthropologische Museum in Turin aufgenommen werden. Lombroso trieb damit die anatomische Selbstverewigung auf einen neuen Höhepunkt, wenn auch auf etwas eigenwillige Weise, denn die übrigen Gehirne gehörten Schwerverbrechern und Geisteskranken. Ebbo, der der sakralhaft gestalteten Sektion beiwohnte, mußte mit Betrübnis feststellen, daß das Gehirn seines ehemaligen Doktorvaters mit nicht einmal 1300 Gramm dem Hirngewicht eines 15-jährigen Mädchens entsprach. Ansonsten ragte an dem unauffälligen Organ einzig eine enorm große “Affenspalte” hervor. Jene Verschmelzung der äußeren Hirnhauptfurche mit der parieto-occipitalen Furche, die Lombroso und auch Benedikt für ein typisches Entartungszeichen bei Gehirnen von Mördern gehalten hatten, war auch das cerebrale Hauptmerkmal beim Begründer der Kriminalanthropologie. Ebbo reiste fassungslos nach Berlin zurück.
Ihn erwartete das endgültige Scheitern seiner Ehe, die 1905 geschieden wurde. Alice blieb in Berlin zurück, da sie sich als Klavierlehrerin inzwischen selbständig gemacht hatte. Ebbo begann, in der Charité eine eher schlecht bezahlte Stelle als Assistenzarzt anzutreten, um seine Tochter zu ernähren.
Ein Jahr später bot ihm die Universitas de Montevideo an, seine Habilitationsschrift zuzulassen, sofern er bereit wäre, nach Uruguay zu kommen und an der dortigen Universität die Ausbildung von einheimischen Medizinern zu übernehmen. Obwohl Ebbo bewußt war, daß er damit in die unterste Klasse der internationalen Wissenschaft abgerutscht war, längst die Halbwertzeit eines aufstrebenden Forschers überschritten hatte und noch dazu mit nur bescheidenen finanziellen Mitteln rechnen konnte, begab er sich in das Abenteuer.
Im Jahr 1908 war er völlig am Boden. Er sprach dem Alkohol zu, besuchte Bordelle und schaffte es sogar, den ihm fest versprochenen Lehrstuhl der Pathologie an einen devoten jungen Engländer zu verlieren, der sich dadurch auszeichnete, daß er die Tochter des Universitätspräsidenten zu schwängern wußte.
Gerettet wurde Ebbo durch seinen Bruder Kaspar. Kaspar, drei Jahre jünger und wesentlich pragmatischer als der Erstgeborene, hatte Landwirtschaft in Petersburg studiert und Mitte der 1890er Jahre als Verwalter auf dem Gut Ottenküll die vermögende Baronesse Milla von Schilling kennengelernt. Nach der Hochzeit lebte das Paar auf dem Gut Poll an der südestnischen Küste.
Das Gut warf gute Gewinne ab und Kaspar, der seinen Bruder schon immer bewundert hatte, bot Ebbo an, nach Estland zurückzukehren und dort einige Jahre als Privatdozent den wissenschaftlichen Durchbruch zu versuchen. Kaspar glaubte felsenfest an das Genie seines Bruders, der soviel wertvollere Anlagen zu haben schien als er selbst.
Obwohl es ihm innerlich zuwider war, zurückzukehren nach Estland und somit ein Scheitern seiner hochfliegenden Lebensträume einzugestehen, war Ebbo an Weihnachten 1908 zuhause. Er war inzwischen 46 Jahre alt, trug einen Nietzsche-Schnurrbart, hatte eine kleine Glatze und war eine ziemliche Sensation als geschiedener Ehemann und arbeitsloser Professor der Medizin.
Mit finanzieller Hilfe seines Bruders legte er sich eine umfangreiche Sammlung von Präparaten in Dorpat an, eröffnete eine Arztpraxis nicht weit vom Theater und wurde von der medizinischen Fakultät Dorpats auch als Privatdozent zugelassen. Eine Professur jedoch, ein ordentlicher Lehrstuhl war weit und breit nicht in Aussicht. Dennoch begann Ebbo mit der Arbeit an einer wissenschaftlichen Arbeit über das Thema: “Zur Lehre von der Lokalisation von Gehirnfunktionen”. Seine Arbeit an Verbrechergehirnen jedoch stockte, weil es nicht genug Verbrechergehirne gab im ländlich-beschaulichen Dorpat, wo höchstens einmal ein betrunkener Student im Karzer landete.
Seine Tochter Oda sah Ebbo nur selten, wenn er hin und wieder nach Berlin reiste, um sich dort nach den neuesten wissenschaftlichen Apparaturen, nach Embryonen und Gehirnen umzusehen.
Im Jahre 1910 erlaubte Kaspar seinem Bruder, seine immer stärker ausufernden Sammlungen in einem ehemaligen Stallgebäude auf dem Gut Poll unterzubringen. Daher war Ebbo nun häufiger in Poll und verstand sich gut mit seiner 12 Jahre jüngeren Schwägerin Milla, die seinen Intellekt, seine Bildung, seine geistigen Interessen anhimmelte.
Im Winter 1911 starb Ebbos Bruder Kaspar an einer banalen Erkältung, die sich zu einer Lungenentzündung ausgeweitet hatte. Jede Hilfe kam zu spät, weil Kaspar sich nicht rechtzeitig hatte behandeln lassen.
1912 heiratete Ebbo seine Schwägerin Milla, um ihren Kindern Paul, Karin und Gigola den Vater ersetzen zu können. Er verlegte sein Labor nun vollkommen nach Poll, da er an der Universität Dorpat von der Fachschaft nicht mehr ernstgenommen wurde und scheinbar den Kontakt zur Wissenschaftselite ganz verloren hatte. Seine Arztpraxis jedoch hat Ebbo in Dorpat behalten, und auch seine Familie wohnt in den Wintermonaten in einer modernen Villa am Stadtrand von Dorpat.
Das Labor in Poll wuchs rasch, da Ebbo erhebliche Mittel seiner Frau in die Forschung steckte. Er investierte in die modernsten und teuersten Apparaturen der Hirnforschung und legte sich auch eine Cytoarchitektur-Maschine zu, mit der er die Hirnschnittmethode von Vogt mit den Thesen von Lombroso und Benedikt zu verbinden hoffte.
Sein Seziertisch aus Marmor war nicht schlechter als die Tische der Universität Dorpat. Als Präparator nutzte er die Ethanol-Methode, die jedoch nicht ungefährlich war. Große Ethanolvorräte hielt er in gläsernen Behältern, die an der Decke des Labors aufgehängt wurden, damit niemand sie umwerfen konnte. Außerdem verharzte er seine Gehirne, um sie in Scheibchen schneiden und mit Kontrastmitteln färben zu können. Schädel bezog er nach wie vor aus Österreich, aber auch aus Montevideo. Von dort bekam er zahlreiche Indianerschädel, auch Schrumpfköpfe.
Schwierig war es jedoch, an frische Gehirne zu kommen. Ein guter Kontakt zu einem befreundeten Irrenarzt aus dem nahgelegenen Pernau versorgte ihn mit Gehirnen und Schädeln von Schwachsinnigen und Epileptikern. Leider war er mit Kriminellengehirnen unterversorgt. Sorgfältige Schädelausgüsse, komparatistische Arbeiten, Lektüre der neuesten Forschungsarbeiten befeuerten ihn in seinem Wunsch, mit seiner aktuellen Arbeit “Zur Lehre von der Lokalisation von Gehirnfunktionen” vielleicht doch noch einen bedeutenden europäischen Lehrstuhl zu ergattern.
Sein Labor in Poll hielt Ebbo sauber, obwohl er ohne jeden wissenschaftlichen Gehilfen war. Ein großes Öl-Porträt von Cesare Lombroso hing über seinem Schreibtisch, dessen Diktum des Sammelgebots er weiterhin befolgte. Mit seinen Vermessungsinstrumenten vermaß er nahezu jeden Bediensteten seines Gutes, sogar seine Frau Milla und deren Kinder. Die Ergebnisse seiner Forschungen wurden penibel in seinem Diarium verzeichnet, einem großen Forschungsfolianten, der in seinem Labor lag. Wenn Ebbo in den Sommermonaten ganz nach Poll zog, verschwand er oft stundenlang in seinem zum Labor umfunktionierten ehemaligen Sägewerk. Die wenigen Bediensteten, die hin und wieder im Labor saubermachten oder bei der Anlieferung neuer Präparate oder Einrichtungsgegenstände helfen mußten, flüsterten hinter vorgehaltener Hand, daß der Herr Professor unchristliche Dinge vollbringe hinter seinen dicken Mauern. Seine Tätigkeit paßte einfach nicht zu den engen provinziellen Vorstellungen von Gut und Böse, die an diesem verlorenen Winkel der Welt herrschten.