1. Entstehung der Idee
Wie ist die Idee zu POLL entstanden?
Das ist lange her. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion besuchte ich 1993 mit meiner deutschbaltischen Familie das inzwischen selbständig gewordene Estland, die Heimat unserer Vorfahren. Der Gutshof Poll existierte in zahlreichen Familienanekdoten, so als glanzvolle Fata Morgana. Als ich dann davor stand, war das nicht glanzvoll. Das war ein völlig abgewrackter, gemarteter Ort, mit einem Tennisplatzrest, aus dem Birken wuchsen. Und wenn man in dieses halbverfallene Haus ging und aus dem Fenster sah, blickte man in eine kanadische Landschaft. So habe ich begonnen, über diesen Ort – noch gar nicht über die Person Oda Schaefer – nur über diesen Ort zu fantasieren, ob da eine Geschichte anfangen kann. Das war der Beginn.
Wie hat sich dieser authentische Ort Poll als Ausgangspunkt mit der Dichterin Oda Schaefer verbunden?
Dieses Thema kam noch viel früher zu mir, das Thema meiner Tante. Ich studierte damals Geschichte und Literatur an der Universität Mannheim. Das war ungefähr 1987, als ich im Rahmen eines Seminars zufällig auf ein Buch gestoßen bin, eine Lyriksammlung von einer gewissen Schaefer, die mit Mädchennamen Kraus hieß. Es stellte sich heraus, dass diese Frau Schaefer meine Großtante war, die einzige Cousine meines Großvaters. Aber noch nie zuvor hatte ich von ihr gehört. In meiner Familie wurde nicht über sie gesprochen, sie war eine persona non grata, eine Salonkommunistin, die sich in ihrer Weltanschauung gegen meine in weiten Teilen nationalsozialistisch orientierte Familie gestellt hatte. Mein Großvater und seine Brüder waren Offiziere in der SS und, wie ich erst heute weiß, in den Einsatzgruppen gewesen, die in Lettland und Estland Zehntausende von Juden erschossen hatten. Eine Person wie Oda Schaefer, die gegen Hitler opponiert hatte und die Nazis für Verbrecher und Idioten hielt, passte nicht ins Bild, war eine Zumutung und wurde als schwarzes Schaf totgeschwiegen. In meiner Familie, wie das übrigens in vielen Familien so ist, werden die Außenseiter durch Schweigen selektiert. Und dazu gehörte diese Oda – nicht als einzige in meiner Familie, aber als prominenteste.
Haben Sie Oda Schaefer persönlich kennengelernt?
Leider nicht mehr. Ich hatte ihr noch einen Brief nach München geschrieben, aber kurz bevor es zu einem Kontakt kam, ging ich aus privaten Gründen für ein Jahr ins Ausland. Als ich 1989 nach Deutschland zurückkehrte, war sie gestorben. Bis heute beschäftigt mich ihr Schicksal.
Weil es ein tragisches Schicksal ist?
Ich glaube nicht, dass es unbedingt ein tragisches Schicksal ist. Es fehlt zwar das Happy End, aber das fehlt eigentlich in jedem Leben. Oda Schaefer war einige Zeit lang als Lyrikerin erfolgreich, sie hat mit dem Schriftsteller Horst Lange eine schwierige, aber auch glückliche Ehe gelebt, und sie hat es vor allem geschafft, zu sich selbst zu finden. Gegen jeden Widerstand. Wem gelingt das schon? Wie das möglich war, wie so etwas überhaupt möglich ist, bei sich selbst anzukommen, das beschäftigt mich vor allem. Das hat mich wohl auch in diesen Stoff getrieben. Am Anfang stand diese absurde Entdeckung einer nahen Verwandtschaft zu einer Art Familienparia. Und irgendwann dann Jahre später kam dieses Gut Poll dazu. Und dieser erste Strom, was mache ich mit dieser Tante, und der zweite Strom, was mache ich mit diesem Haus, hat dazu geführt, dass ich kurz nach dem Baltikumbesuch das Drehbuch geschrieben habe. So ist POLL entstanden. Seit 1996 habe ich dann versucht, den Film zu machen. Ursprünglich nur als Drehbuchautor, zusammen mit einigen Regisseuren und mehreren Produktionsfirmen hier in Deutschland. Und irgendwann, nach vielen gescheiterten Anläufen, habe ich es dann selbst probiert.
Warum haben Sie den Film 1914 angesiedelt, als Oda Schaefer noch ein Kind war, lange vor ihrer Laufbahn als Autorin?
In dieser Episode steckt die ganze Existenz dieser Frau. Auf jeden Fall ihre Sehnsucht und der Kern ihrer Identität. In ihrer Autobiographie „Auch wenn du träumst, gehen die Uhren“ hat sie über die wenigen Wochen, die sie vor Ausbruch des Weltkrieges in Poll bei Verwandten war, fast ein Viertel des Buches gefüllt. Diese völlig kaputte Bruchbude, in der ich 1993 stand, schildert sie in ihrem Buch als Idyll, als Paradies, was es 1914 wohl auch war. Mit der für sie typischen Liebe zum Detail beschreibt, nein, beschwört sie die Tapete ihres Zimmers wie ein barockes Gemälde. Und als ich da 80 Jahre später davor stehe, ist diese Tapete von Tauben vollgeschissen, liegt in Fetzen auf dem Boden. Dieser Gegensatz aus Vergänglichkeit und einer Erinnerung, der die Welt nichts mehr anhaben kann, hat mich unendlich beeindruckt. Und ich fand in Odas Texten einige Hinweise, die mir zeigten: In Poll muss es passiert sein, in Poll muss der Grund liegen, warum sie anders wurde als der Rest der Familie, es muss an dem Ort liegen. Irgendetwas ist ihr dort widerfahren, was sie in eine andere Umlaufbahn schoss als ihre ganze Verwandtschaft. Das hat mich nicht losgelassen. Ich wußte, es gibt ein Tor. Aber ich hatte keinen Schlüssel. Den habe ich schließlich erfunden.
Wieviel Erfindung oder Fiktion verträgt eine Geschichte, die nach einem wahren Leben und einer wirklichen Person geformt ist?
Ich bin da nicht zimperlich gewesen. Fiktion sollte ja niemals die Verballhornung von dokumentarischem Erzählen sein, sondern im besten Falle eine Vertiefung, für die man natürlich immer einen Preis bezahlt. Der Preis ist in einem Spielfilm oft eine gewisse Freiheit, man kann natürlich auch Rücksichtslosigkeit sagen, im Umgang mit den sogenannten Fakten. So habe ich das auch gehalten. POLL ist kein Porträt, sondern die Interpretation eines Lebens. Dieses Interpretieren habe ich sehr ernst genommen, denn anders als durch eine klare Haltung konnte ich Oda nicht nahekommen. Ich bin überzeugt, dass Oda Schaefer als junges Mädchen genauso war und wirkte, wie ich sie zeichne. Aber diese Überzeugung ist natürlich gnadenlos subjektiv, also rein objektiv gesehen vielleicht total falsch. Wie Nabokov schon gesagt hat, glaube ich aber nicht an Objektivität beim Geschichtenerzählen.
Sie selbst bezeichnen POLL als eine wahre Geschichte.
Selbstverständlich wurde dieser Film von einer wahren Geschichte inspiriert. Oda Schaefer hat den Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Poll erlebt, als Deutsche mitten im Land des Feindes. Sie hat diese Zeit als Tanz auf dem Vulkan empfunden und die Baltendeutschen um sich herum sehr genau beobachtet, deren Unverletzlichkeitswahn inmitten einer brüchigen Endzeitstimmung seismographisch erfasst. Dies versucht auch der Film. Die Personage des Films habe ich im wesentlichen aus der Autobiographie übernommen. Anhand dieser Figuren, die sich an diversen Schicksalen meiner Familie orientieren, aber auch zusammengesetzt sind aus allen möglichen Einfällen, ist jetzt ein Film geworden, der nach Motiven von Oda Schaefers Leben arbeitet, aber nicht den Anspruch hat, hundertprozentig authentisch zu sein. Es ist eben kein Dokumentarfilm.
Was weicht im Film ab von der authentischen Konstellation?
Naja, was vor allem abweicht, was absolut erfunden ist, ist eigentlich das Herz der Liebesgeschichte, also die Geschichte von Schnaps. Oda Schaefer hat in ihren Erinnerungen über die Zeit in Poll eine Leerstelle gelassen. In dieser sehr romantisch gefärbten Autobiographie der Autorin war der Eros des Sommers 1914 nur angedeutet. Den habe ich mit der Einführung von Schnaps vervielfacht, natürlich wurde damit auch die Dramatik des Geschehens vervielfacht. Diese Figur war zusätzlich eine günstige Gelegenheit, eine Motivation für die sozialistische Weltanschauung anzubieten, für die Oda Schaefer Zeit ihres Lebens empfänglich blieb. Obwohl sie nie ein wirklich politischer Mensch war. Dazu war sie viel zu versponnen, auch zu selbstbezogen, in jeder Hinsicht eine Ästhetin. Sie hat meines Wissens nie einen dezidiert politischen Text geschrieben.
2. Ebbo und die Hirnforschung
Ebbo, neben Oda und Schnaps eigentlich die dritte Hauptfigur in POLL, scheint mit seinem Beruf, seinen Widersprüchen, seinen Ansichten geradezu exemplarisch für das beginnende 20. Jahrhundert zu stehen.
Das stimmt. Vor allem aber ist er eine sehr vielschichtige Figur. Der reale Vater von Oda Schaefer hieß zwar auch Ebbo, war jedoch kein Arzt, sondern Schriftsteller und Journalist. Als der Weltkrieg zuende war, hat er sich in Berlin erschossen, weil Deutschland besiegt worden war. Ich glaube, dieser Tod hat letztlich einen Konflikt verhindert, der unabwendbar irgendwann zwischen der linksintellektuellen Oda und ihrem ultranationalistischen, antisemitischen Vater aufgekommen wäre. Als Journalist war Ebbo uninteressant für eine Filmfigur. Und es stimmt schon, ich habe für Ebbo eine, wie soll ich sagen, eine Markierung gesucht vielleicht, einen gesellschaftlichen und auch zeittypischen Standpunkt. Den habe ich dann im Topos der Hirnanthropologie gefunden. Dieser Wissenschaftszweig war damals hochangesehen. Kriminologie, Hirnforschung, Kraniologie, das waren Kracher. Und ich wollte auch zeigen, dass es in diesem Film nicht um eine Liebesgeschichte in historischem Gewand geht, sondern um eine ganz konkrete Zeit. Eine Zeit, in der die Welt von heute begann, eine Zeit, in der die Moderne unter Schmerzen geboren wurde.
Die Figur des Hirnforschers versinnbildlicht den Gegensatz zweier Prinzipien, den Determinismus auf der einen Seite, den freien Willen, die Selbstbestimmung auf der anderen Seite.
Und dies sind letztlich auch die Prinzipien, die historisch gesehen die elementaren geistigen Konflikte des 20. Jahrhunderts auf einen Punkt bringen. Der Beruf des Arztes hatte viele Vorteile für die Figur. Also der Arzt an sich ist ein archaischer Beruf, überhaupt der erste Beruf, den es gab in der Menschheit nach dem Jäger und Sammler. Der Medizinmann, der Heiler, der Zauberer, der Priester, all das steckt da mit drin. Und all dies steckt übrigens auch im Künstler. Mit diesem Arztberuf schafft man zumindest eine indirekte Verbindung zur Kunst. Denn ursprünglich war das die Suche: Wie schaffe ich es, auch dem Charakter des tatsächlich existierenden Ebbo Kraus, der ja ein Künstler, ein Schriftsteller war, im Film gerecht zu werden. Tatsächlich habe ich dann eine kleine Szene gefunden, als allererstes Bild für Ebbo im Film, wie er sehr kunstvoll zeichnet. Ich wollte ihn eben auch zumindest andeuten als jemanden, der diese Anlagen hat.
In einer Laborszene erkennt man das Porträt des italienischen Hirnforschers Lombroso, das neben Ebbos Schreibtisch hängt.
Ja, wir wollten ursprünglich die Biographie von Ebbo stärker in den Vordergrund rücken, den wir zu einem Wissenschaftler gemacht hatten, der bei Cesare Lombroso in Turin promoviert hatte und als dessen Assistent mit vielversprechender Karriere anfing. Das wurde dann aber aus dem Buch kurz vor Drehbeginn gestrichen, weil es einfach zu viel Raum eingenommen hätte. Aber da wir jeden Frankenstein-Trash verhindern wollten, haben wir dieses Thema sehr genau recherchiert. Schädel- und Gehirnuntersuchungen waren damals in allen europäischen Ländern üblich. Sie gehörten zur Bestimmung der nationalen Identität, die sich vor allem über die Rasse definierte. Die Degenerationstheorie von Lombroso war hochmodern und internationaler Mainstream. Lombrosos Hauptwerk, „Der Mensch als Verbrecher“, war ein weltweiter Bestseller und hat zum Beispiel Himmler später sehr beeindruckt. Dass diese Wissenschaft der Keim für radikale Rassentheorien sein sollte mit den furchtbarsten Konsequenzen, wirkt jedoch erst im Nachhinein folgerichtig. Ich war völlig überrascht, dass die führenden deterministischen Hirnanthropologen damals, also zum Beispiel Cesare Lombroso und Moritz Benedikt, jüdischer Herkunft waren. Das ist eine bittere Ironie, denn man weiß ja, wohin ihre Resultate geführt haben.
Steht der Determinismus der damaligen Hirnforschung auch im Gegensatz zur Entwicklung, zur Selbstfindung einer Figur wie Oda Schaefer, die im Film Oda von Siering heißt?
Natürlich. Und damit auch konträr zu allen Überzeugungen ihres Film-Vaters Ebbo. Sie ist weiblichen Geschlechts und somit per se diskreditiert. Sie ist aus der Sicht der Deterministen völlig unfähig, wie ein Mann zu handeln. Dabei ist sie im Film ja die einzig wirklich Handelnde. Alle anderen reagieren bloß. Es ist ihre Idee, Schnaps zu verstecken. Es ist ihre Idee, den Mann gesundzupflegen oder ihm Fluchtmittel zu verschaffen. Diese Energie, die übrigens einer kriminellen Energie sehr nahe kommt, wäre aus biologistischer Sicht gar nicht möglich. Oda sagt ja an einem Punkt des Films zu ihrem Vater: Ich werde keine Frau! Sie erfindet sich selbst, sie findet zu sich selbst. Das ist das Kernthema.
Die Hirnforschung ist der perfekte Antagonist zu dieser Bewegung. Ebbo ist ja nur ein Verfechter seiner Theorie, als Mensch eine komplexe Figur, sehr ambivalent. Und das sehe ich als das Entscheidende in dieser ganzen Geschichte, dass alle Figuren eine Ambivalenz haben. Ihre Abgründe, ihre Imperfektionen und ihre Humanität verbinden sich, sind zusammengesetzt aus einander widersprechenden Bedürfnissen, Absichten, Nöten. Edgar Selge und ich hatten uns darauf geeinigt, dass er Ebbo nicht als Monster, sondern als jemanden zeigt, der eigentlich alle Anlagen hat, die seine Tochter auch hat, aber er kann sie nicht leben, er bricht nicht aus seiner Klasse aus. Eine traurige Figur. Genauso fremdbestimmt hätte Odas Leben auch vonstatten gehen können. Weil … beide Charaktere sind eigentlich nicht sehr liebreizend gezeichnet. Auch die Oda ist ja selfish, die ist ja wahnsinnig egozentrisch, geht auch über Leichen, auch wenn es nur Froschleichen sind, um ihrem Freund zu helfen. Sie ist sehr willensstark, ist analytisch und oft kalt auch, sehr durchsetzungsfähig – also alles Eigenschaften, die ihr Vater ebenfalls besitzt. Und ich glaube, sie und er sind schon die beiden verschiedenen Ausprägungen ein und derselben Anlagen.
Welches Geschichtsbild steht hinter POLL– gibt es eine Persistenz von Erfahrungen, auch Gewalterfahrungen, die von damals bis heute wirksam ist?
Darum geht es ja ganz stark in dem Film. Von Thomas Mann ist der Satz, dass es keine Gegenwart gibt, nur eine von Gegenwart überkleidete Vergangenheit. Mir ist das immer bewusst. Ich habe ja einst versucht, Historiker zu werden. Die Linien der Geschichte führen direkt in unsere Psyche. Wenn ich nicht das Gefühl hätte, die Geschichte von Oda Schaefer wäre eine, die auch mich und meine Familie heute noch prägt, hätte ich nicht zwanzig Jahre darum gekämpft, sie zu erzählen.
3. Historische Genauigkeit
Welchen Einfluss hat die besondere Geschichte der Deutschbalten auf die Filmerzählung?
Eine interessante Gruppe ist das. Bis heute eine fast homogene Klasse mit nahezu wasserdichtem Selbstbild. Eine Oberschicht, die extrem sozialisiert war, die extrem über Bildung lief und im Grunde genommen politisch übereinstimmte. Es gab zum Beispiel keinen Sozialismus im Baltikum, es gab keine Arbeiterklasse, und das absolut radikalste für einen Balten war, liberal zu sein. Liberales Besitzbürgertum, links davon gab es einfach nichts, das war völlig unvorstellbar. Deshalb ist es so schwer zu erklären, wieso Oda Schaefer, die ja während des Dritten Reiches nur in der „Inneren Emigration“ war, die also als Antifaschistin von Leuten wie Brecht oder dem Schweizer Max Frisch, den sie gut kannte, gar nicht für voll genommen wurde, wieso diese Frau so ein Skandal war für ihre Klasse. Das ist ganz schwer zu erklären, dass das eigentlich gar nicht ging, baltisch und links.
War es für Sie von Anfang an klar, dass die Protagonisten in POLL im Dialekt der Deutschbalten sprechen sollten?
Ja, das wäre auch anders gar nicht gegangen. Aus diesem Grunde wollten wir den Film auch nicht international besetzen, weil die Sprache ein Sinnbild der baltischen Kultur ist. Wir hatten anfangs Bedenken, dass dieser nahezu ausgestorbene Dialekt künstlich und gestelzt klingen könnte. In den USA versteht es sich von selbst, dass sich Schauspieler den Idiolekt, Soziolekt und Dialekt ihrer Figuren aneignen. Wenn man sich Peter Weirs DER EINZIGE ZEUGE im Original ansieht, dann ist es schon erstaunlich, wie unfaßbar genau die deutschen Amish-Darsteller gecastet wurden. Die sprechen alle ein altertümelndes Alemannisch, das man sich in unserer Filmkultur kaum trauen würde. Und Jessica Lange klingt so deutsch wie eine schwäbische Bäuerin. Und Harrison Ford hat sich einen Philadelphia-Akzent draufgeschafft, den er in keinem anderen Film nuschelt. Wenn du einen Culture Clash erzählen willst, mußt du in die Sprache gehen. Die Sprache unterscheidet Kulturen am deutlichsten voneinander. Ein Vorbild war für mich immer die BLECHTROMMEL von Volker Schlöndorff. Wie er da das Kaschubische rekonstriert hat, das Danziger Deutsch, das Ostpreußische, dann immer auch mit polnischen Brocken arbeitet, mit französisch, russisch. So etwas gibt es heute gar nicht mehr.
Wie akribisch, wie genau muss ein historischer Film sein?
Ganz banal gesagt: So genau wie möglich. Aber Genauigkeit hat beim Film sehr viel mit Subjektivität zu tun. Wer einen historischen Film macht, muß zumindest die Zeit ernst nehmen, in der dieser Film spielt. Die Zeit muß glaubhaft, in sich konsistent sein. Dafür brauche ich Genauigkeit. Gar nicht mal objektive Genauigkeit, subjektive Genauigkeit reicht.
Was meinen Sie mit „subjektiver Genauigkeit“?
Wenn man den Eiffelturm krumm nachbaut, sind sofort alle Franzosen sauer. Der Fehler ist also für viele Menschen überprüfbar, da muß man objektiv genau sein. Wenn aber z.B. Michael Haneke für DAS WEISSE BAND ein Jahr vor dem Dreh eine alte Getreidesorte pflanzen läßt, damit kein falscher Weizen blüht in seinem Filmdorf, so ist das ja nur eine subjektive Genauigkeit. Kein Mensch auf der ganzen weiten Erde bemerkt im Film den Unterschied zwischen Hybridweizen und einer historisch korrekten Sorte. Den bemerkt letztlich nur der Regisseur. Dennoch spürt das Publikum die Sorgfalt, die in so scheinbar nebensächlichen Details einen historischen Film prägt. Noch entscheidender ist, dass das gesamte Team durch solche irrwitzigen Prioritäten erfährt, wie wichtig es ist, diese subjektive Genauigkeit im Prozess des Machens ernst zu nehmen. Jeder Schauspieler überprüft dann seinen Gestus, ob der stimmig ist, jedes Teammitglied ist motiviert, das Äußerste an Sorgfalt aufzubringen. In POLL musste ich einmal einen ganzen Filmbau umdekorieren lassen, weil die Fassadenlatten in der falschen Richtung aufgenagelt waren. Vermutlich hätte das Publikum diesen Fehler nicht bemerkt. Aber es geht um die Summe von Ungenauigkeiten, die irgendwann einen historischen Film zum Kippen bringen. Dieses Genre ist so dermaßen künstlich. Niemand weiß, wie es damals wirklich gewesen ist. Du hast Kostüme, Gesten, Bauten, die du alle nicht mehr an der Gegenwart überprüfen kannst, du hast eine künstliche Spielfilmhandlung, der sich die Fakten an irgendwelchen Stellen unterwerfen müssen. Also muß man, um kein Karnevalsgefühl aufkommen zu lassen, ganz subjektiv Behauptungen aufstellen, wo man erklärt: Ab hier, ab diesem Punkt, ziehen wir eine Linie. Ab hier gilt das Gesetz der totalen Penibilität.
Worin drückt sich diese subjektive Genauigkeit bei POLL aus?
Ganz generell: Die Vorbereitung musste in einer Weise geschehen, die mit der deutschen Art des Filmemachens schwer übereinzubringen ist. Hier wird durch das Subventionssystem, das erst kurz vor Drehbeginn eine Finanzierung sichert, der eigentliche Produktionsstart üblicherweise erst nach der letzten Zusage einer Förderung ausgelöst. Das verhindert, dass man wie in England oder den USA ein Jahr vor der ersten Klappe die nötigen Vorarbeiten beginnen kann. Und Vorarbeiten sind bei einem historischen Film noch wichtiger als in jedem anderen Genre. Z.B. müssen die Schauspieler sehr früh feststehen und unter Vertrag genommen werden. Die einzelnen Kostüme müssen Monate vorher für die Darsteller maßgeschneidert werden. In unserem Fall mussten die Schauspieler reiten lernen, sie mussten ihre Instrumente lernen. Jeanette Hain hat vier Monate vor den Dreharbeiten begonnen, Cellounterricht zu nehmen, und sich ihr Stück in brillanter Weise angeeignet. Und das Baltendeutsche wurde viele Wochen mit einem Sprachcoach eingeübt. Diese Sprache ist ja nahezu ausgestorben. Das ist fast linguistische Archäologie, was man da betreibt. Und das dauert. Um das zu gewährleisten, haben die Produzentinnen Meike und Alexandra Kordes ihre Existenz gefährdet und alles auf eine Karte gesetzt.
4. Drehort und Szenographie
Wie lange haben Sie gesucht, bis Sie den Drehort für POLL gefunden haben? Und was hat Sie letztlich bewogen, das Gut für den Film komplett zu bauen?
Wir haben zwei Jahre gesucht. Wir hatten Location-Scouts in Deutschland, in Polen, in Litauen, Ostpreußen, Finnland, Estland, Lettland, in halb Europa. Es wurden über 5.000 Gutshöfe abgefahren. Nirgendwo fanden wir ein real existierendes Gut, das geeignet war. Am Ende blieb nur noch dieser eine Strand mitten in der Wildnis, im Süden Estlands. Das war so ein verfallenes Fischerdorf mit einer Betonmole. Und ich war enttäuscht, weil ich dachte, jetzt an diesem Fischerstrand, oh je, das passt historisch überhaupt nicht. Und dann kam die Idee, dass wir gesagt haben: Wenn schon wahnsinnig, dann richtig, dann bauen wir das Haus nicht an die Küste, sondern wir bauen es direkt ins Meer. Ans Ende der Mole. Und das hatte schon wieder was. Denn Wahnsinn, das passte zu den Balten. Und das passt dann auch zur subjektiven Genauigkeit. Denn ein paar baltische Barone hatten damals auch völlig beknackte Gutshöfe gebaut, Moscheen, indische Paläste. Und so haben wir behauptet, dass irgendein Irrer dieser Familie vor vielen Jahren in Russisch-Alaska als Gouverneur tätig war und sich dort immer nach Palladio gesehnt hat, nach dessen Renaissance-Architektur. Und nach seiner Rückkehr ins Baltikum hat der Gouverneur so ein größenwahnsinniges Haus ins Meer gesetzt, eben eine Mischung aus Palladio und Alaska, ein Traumhaus. Oder besser vielleicht ein Alptraumhaus, aus Sicht der Nachfahren.
Das heißt, die Idee zum Gutshof in POLL entstand vor Ort?
Für so eine Idee braucht man ein gewisses Maß an Verzweiflung. Ich habe die ersten Entwürfe gezeichnet. Silke Buhr, die Szenographin, hat dann die Vision Gott sei Dank nicht bescheuert gefunden, sondern sogar noch vergrößert. Wir beschlossen: Das Haus wird ein Protagonist. Das ist einfach der älteste Darsteller im Film, der liegt im Sterben. Das szenographisch umzusetzen, ist ein Wagnis. Denn erneut stellt sich ja die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Silke Buhr arbeitet wie ich sehr gerne über das Inhaltliche. Dadurch wurde uns in Gesprächen z.B. klar, dass die Familie von diesem Menschen, der diesen schwachsinnigen, nicht bewohnbaren Palladio-Bau ins Meer gerammt hatte, ja durchaus unzufrieden gewesen sein muss, weil man das Schloß nicht bewohnen konnte. Und durch diese Unzufriedenheit, dass sie das nicht nutzen können, haben die Nachfahren so ziemlich hässliche, aber geräumige Holzbauten links und rechts an Palladio geklebt, die nicht zu dem Originalbau passen und immer weiter ins Meer sinken. Und so ist dieses Imperfekte entstanden, das man für Filmbauten braucht. Also das klassische Finden der Form über den Inhalt. Das ist die große Kunst von Silke.
Wurde das Gebäudeensemble rund um den Gutshof auch gebaut?
Im Grunde ja. Es gab zwar ein paar verfallene Bretterbuden am Strand, und die wurden in den Set integriert. Aber die größeren Scheunen wurden alle gebaut, sogar die kleine Kirche am Friedhof, in der Oda Schnaps findet. Das war ein pharaonisches Bauprogramm. Die ersten Bagger rollten an, da war das Meer noch vereist. Diese gesamte Ostsee, soweit das Auge reichte, war mit Caspar-David-Friedrich-Eisschollen übersät. Wir mussten bis in die Granitplatte unter dem Meeresboden bohren, damit das Haus nicht vom ersten Sturm weggefegt wird. Das hat unglaublich viel Geld verschlungen. Und das Tragischste war, dass wir dann nach Drehende alles wieder wegsprengen mussten.
Nicht nur mit Silke Buhr, auch mit der Kostümbildnerin Gioia Raspé und der Maskenbildnerin Susana Sanchez arbeiten Sie regelmäßig zusammen. Bei der Kontinuität fällt auf, dass die Kamerafrau Daniela Knapp neu dazugekommen ist.
Auch mit der Komponistin, der Editorin, der Casterin und vor allem den Produzentinnen habe ich ja schon eine Geschichte. Das ist mir auch wichtig, dass wir zusammenbleiben. Aber mit der Kamerafrau meiner früheren Filme, Judith Kaufmann, bin ich für dieses Projekt nicht zusammengekommen, obwohl das einmal anders geplant gewesen war. So ist sehr kurz vor Drehbeginn Daniela Knapp mit an Bord gekommen. Ich kannte vor allem ihre Filme mit Sven Taddicken, die ich sehr mochte. Sie hat für POLL eine betörende Arbeit gemacht.
5. Filmische Gestaltung
Es fällt auf, dass in POLL immer wieder große, weite Bilder gegen fast kammerspielartige Szenen gesetzt werden.
Ich arbeite gerne mit Gegensätzen. Und das ist ja auch Kino, dass man sich nicht immer nur in der Halbtotalen bewegt. Die teuersten Einstellungen in jedem Film sind die Totalen. Und in einem historischen Film gilt das ganz besonders, weil du für das Abfilmen jeder historischen Ameise den gesamten Apparat in Gang setzen musst. POLL ist im Grunde ein Kammerspiel. Die Größe der Bilder ist wichtig, um die Sehnsucht Odas zu illustrieren, natürlich auch die Größe der Welt, in der die Menschen so klein sind. Deshalb war es Daniela und mir wichtig, einerseits zu zeigen, wie eng Oda die Welt empfindet und diese Enge auch zu beschreiben. Wenn z.B. die Familie im Salon beim Abendessen sitzt, da sind wir ganz konventionell vorgegangen, weil Konventionalität immer auch etwas Beengtes ausdrückt. Und wir haben uns sehr genau überlegt, wann wir uns gestatten, den Zauberkasten aufzumachen. Wir haben immer gesagt, dass wir subjektiv aus der Perspektive der Oda erzählen, die ja ein Rückblick ist. Und so ist das ja oft in der Erinnerung: In der Erinnerung hat jeder Mensch große Bilder für sich, selbst wenn sie eigentlich klein waren. Und so haben wir die engen Bilder im Labor so behauptet, wie Oda sie auch empfunden hat, und die engen Bilder, die es auf dem Dachboden gab, oft geöffnet durch Parallelmontagen. Das waren Überlegungen, die im Laufe dieser sehr kurzen Vorbereitungszeit sehr wichtig waren.
Wie haben Sie Paula Beer für die Hauptrolle gefunden?
Wir haben ein langes Casting angesetzt, das wir übrigens nach Europa geöffnet hatten. Wir fanden und fanden niemanden, bis die Kindercasterin Britt Beyer plötzlich von einem „Renaissancegesicht“ schwärmte, das ihr auf einem Berliner Schulhof über den Weg gelaufen war. Und dieses Renaissancegesicht war Paula. Sie hat sich dann in vielen Runden gegen 2.000 andere Mädchen durchgesetzt. Die Strapazen in Estland waren für sie enorm, da sie jeden Tag gearbeitet hat und fernab von ihren Eltern war, monatelang. Das ist für eine 14-jährige nicht einfach. Aber Paula ist hart im Nehmen und schauspielerisch schon sehr weit, auch von ihrem bescheidenen Wesen und ihrer Ernsthaftigkeit Hannah Herzsprung nicht unähnlich. So wie Hannah bei VIER MINUTEN hat uns dieses Mädchen nun alle weggeblasen.
Hat sich an POLL im Schnitt noch etwas geändert?
Viel, da ja ursprünglich noch eine aufwendige Rahmenhandlung gedreht werden sollte, die die alte Oda Schaefer in Berlin zeigt. Das sollte in Deutschland realisiert werden, wir haben es aber dann im Schneideraum abgeblasen. Ein Problem war, dass wir den Film falsch vorgestoppt hatten. Der Rohschnitt lag am Ende bei über 200 Minuten, das war nicht auszuhalten. Wir haben im Schnitt einige Zusammenhänge verkürzt, eine Voice Over eingeführt, die es im Drehbuch nicht gab. Außerdem wurden Anfang und Ende des Filmes in Uta Schmidts Montage durchgeschüttelt. Wir mussten sehr auf den Rhythmus des Filmes achten, der einen langen Atem hat. Der Film geht stark auf eine Emotion, die langsam wächst, und nicht auf Attraktionen, die sich die ganze Zeit entladen.
Sehen Sie POLL als Liebesfilm?
Das geht ja nicht anders, und die Liebe ist in diesem Falle eine unbedingte, eine, die gegen jede Vernunft gelebt wird. Weil das Herz des Films tatsächlich die Frage ist: inwieweit Liebe etwas verändern kann. Zumindest in einem selbst. Zumindest für Sekunden. Es ist ja ein sehr romantischer Film. Ein Film über eine unglaublich wilde, unglaublich scheue Liebe, die über die Grenzen des Selbsterhaltungstriebes hinausgeht. Das ist ja etwas sehr Seltenes und Schönes, wenn das bei einem Menschen geschieht, dass er für einen anderen alles wagt. Und um das Wagnis ehrlich zu erzählen, haben wir auf das verzichtet, was eigentlich unabdingbar ist in einem Liebesfilm: Nämlich die Liebesszene. Die hätte diese völlig selbstgezimmerte Welt des Mädchens zertrümmert.
Wir haben über die Herausforderung eines historischen Films gesprochen. Wie aktuell, wie universell sehen Sie POLL?
Ach, dazu kann ich gar nichts sagen. Ich kann einfach nur erklären, dass es für mich entscheidend ist zu wissen, wo ich herkomme. Das ist für mich als Individuum extrem wichtig. Und deshalb schreibe ich auch immer wieder historische Abrisse über verstorbene Verwandte von mir - nur für mich und meine Kinder. Ob dieser Film über Oda Schaefer nun aktuell ist oder nicht – ich glaube, er zeigt auf jeden Fall, wo sie herkommt. Und er zeigt damit vielleicht ein bißchen, wo wir herkommen. Und wo wir hinwollen. Nämlich zu uns selbst. Aber ich will da nicht hochtrabend sein. Immer war es nur mein Wunsch, diese Frau zu verstehen, diese Oda. Das war mein großer Wunsch seit diesem Tag damals in der Bibliothek in Mannheim. Und ich hoffe eben, dass ich diesen Wunsch so unterhaltsam und berührend wie möglich verwirklicht habe. Nichts ist grausamer, als den Zuschauer zu langweilen.